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Studie: MigrantInnen als unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft

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Die COVID-19-Krise hat eines besonders ans Tageslicht gefördert: Arbeitskräfte in so genannten „systemerhaltenden Berufen“ waren für die Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens, der Lieferketten und der Landwirtschaft in Österreich und ganz Europa unverzichtbar. Lange Zeit wurde allerdings die Tatsache ignoriert, dass ein wichtiger Teil dieser Arbeitskräfte MigrantInnen, darunter Flüchtlinge und oft auch Asylsuchende, sind. Es ist an der Zeit, dass wir ihre Beiträge anerkennen und sicherstellen, dass sie ihre Fähigkeiten und Kompetenzen entfalten können und ihre Rechte respektiert und geschützt werden.

 

„Ich mag meine Arbeit wirklich, weil es darum geht, anderen zu helfen. Ich bekomme auch viel zurück. Es ist also eine wechselseitige Beziehung. Das Arbeitspensum und der Zeitplan sind eine Herausforderung, aber wir schaffen das schon", erklärt Christian. Er kam im Alter von 20 Jahren aus der Demokratischen Republik Kongo nach Belgien und arbeitet heute als Krankenpfleger: „Die Corona-Krise war natürlich sehr stressig. Wir mussten uns sehr anstrengen, um unsere Patienten und uns selbst vor Infektionen zu schützen.“ Dabei ist Christian im Alltag aufgrund seiner Herkunft immer wieder mit Diskriminierung konfrontiert: „Das Schwierigste daran, ausländischer Herkunft zu sein, ist die Tatsache, wie man von anderen wahrgenommen wird. Manche sehen einen misstrauisch an. Das war vor allem ein Problem bei der Wohnungssuche in Brüssel.”

Wie das Caritas-Netzwerk in einer kürzlich erschienenen Publikationsreihe zeigte, spielen MigrantInnen und Flüchtlinge seit langem eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung der europäischen Wirtschaft in unterschiedlichen Sektoren wie Logistik, Landwirtschaft, Gesundheitswesen, Bauwesen, Bildung und Wissenschaft, um nur einige zu nennen. Eine Studie im Auftrag der Europäischen Kommission zeigte, dass 13% der Arbeitskräfte in den oben genannten Schlüsselsektoren im Ausland, viele davon außerhalb Europas geboren wurden. In bestimmten Berufen sind nicht-europäische MigrantInnen (häufig Frauen) stark überrepräsentiert, so etwa im Reinigungsgewerbe (25% der Gesamtzahl), im Bergbau und Baugewerbe (17%), in der Pflege (14%), im Anlagen- und Maschinenbetrieb (13%) und in der Lebensmittelverarbeitung (11%). In der Corona-Krise wurde die Abhängigkeit Europas von migrantischen Arbeitskräften besonders deutlich: Im Durchschnitt ist eine/r von fünf ArbeitnehmerInnen in der Lebensmittelverarbeitung in der EU im Ausland geboren (einschließlich Flüchtlinge). In Österreich hat jede zweite Reinigungskraft, jede fünfte Kassa- oder Verkaufskraft und jede dritte ArbeitnehmerIn in der (nicht-akademischen) Krankenpflege- und Geburtshilfe Migrationshintergrund.

Was oft unerwähnt bleibt, ist, dass diese systemerhaltenden Berufe, insbesondere jene mit einem überproportional hohen Anteil an Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, in Österreich regelrecht prekäre Arbeitsbedingungen, ein erhöhtes Risiko der Arbeitslosigkeit und beinahe keine Aufstiegsmöglichkeiten aufweisen. Das Risiko der Armutsgefährdung trifft dabei migrantische ArbeitnehmerInnen deutlich stärker als ihre einheimischen ArbeitskollegInnen. Im Landwirtschaftssektor in Italien und Spanien, wo die Arbeitskräfte in der Regel informell rekrutiert werden, hat die Caritas festgestellt, dass migrantische Arbeitskräfte häufig ausgebeutet werden, oftmals in Armut leben und nur begrenzten oder gar keinen Zugang zu sozialer Sicherheit haben. Alles in allem leben migrantische ArbeitnehmerInnen mit größerer Wahrscheinlichkeit unter der Armutsgrenze als ihre einheimischen ArbeitskollegInnen, wie aus den Berichten der Caritas hervorgeht. COVID-19 hat diese oftmals sehr schwierige Situation nur noch verschlimmert: Da MigrantInnen mit größerer Wahrscheinlichkeit in prekären Situationen arbeiten, waren sie stärker mit den Auswirkungen des „lock downs“ konfrontiert. Das zeigt der prognostizierte Einbruch der weltweiten Rücküberweisungen besonders deutlich: Insgesamt werden Rücküberweisungen, also die finanziellen Hilfen, die MigrantInnen an ihre Familien in Herkunftsländern schicken und für diese oft überlebenswichtig sind, um 23% einbrechen.

Trotz der Abhängigkeit Europas von MigrantInnen und Flüchtlingen zur Aufrechterhaltung lebenswichtiger Dienstleistungen haben es viele europäische Länder bisher versäumt, Migration als positiven und selbstverständlichen Aspekt in einer globalisierten Welt anzuerkennen. Während MigrantInnen de facto unverzichtbar für europäische Gesellschaften sowie Volkswirtschaften sind, bieten die EU und ihre Mitgliedstaaten nur sehr begrenzt sichere und reguläre Migrationswege für Menschen außerhalb der EU und schaffen damit Voraussetzungen für mehr irreguläre Ankünfte. Selbst wenn Drittstaatsangehörige (Personen, die nicht aus einem EU-Mitgliedsstaat kommen) legal in die EU einreisen können, haben sie aufgrund von Anforderungen, die sehr häufig nicht in ihrem Einflussbereich liegen (wie z.B. Unmöglichkeit, eine formale Beschäftigung nachzuweisen, prekäre Arbeitsverhältnisse usw.), Schwierigkeiten, ihre Aufenthaltsgenehmigung aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus sind MigrantInnen (vor allem nicht-europäische) in ganz Europa mit Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie mit einer breiteren Diskriminierung aufgrund ihrer Herkunft konfrontiert, die durch Xenophobie und populistisch-nationalistische Debatten geschürt wird. Ein Beispiel dazu: In Österreich ergab eine experimentelle Studie, dass türkische BewerberInnen bei gleicher Qualifikation zu 25,3% und nigerianische BewerberInnen nur zu 18,7% zu Jobinterviews eingeladen werden. Österreichische BewerberInnen werden im Vergleich dazu zu 37% eingeladen.

MigrantInnen und Flüchtlinge tragen dazu bei, unsere Gesellschaften und unser alltägliches Leben am Laufen zu halten, und leben dennoch oft in Armut. Um ihre gesellschaftliche Teilhabe zu erleichtern, müssen wir diese Krise daher zum Anlass nehmen, um eine gerechte Politik zu fördern, die die Würde und die Rechte von MigrantInnen und Flüchtlingen anerkennt. In Zeiten dramatischer Wirtschaftskrisen bedeutet dies nicht, dass dies auf Kosten anderer geht, die von Armut und gesellschaftlicher Benachteiligung betroffen sind. Es braucht viel eher Maßnahmen, welche die oft sehr unterschiedlichen Situationen benachteiligter Gruppen berücksichtigen.

Das europäische Caritas-Netzwerk sieht daher einen dringenden Bedarf an einem Bündel von Maßnahmen, das die Würde und Rechte von MigrantInnen und Flüchtlingen respektiert und fördert, die nachhaltige Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglicht, Diskriminierung und Xenophobie bekämpft sowie einen faktenbasierten und verantwortungsvollen, öffentlichen Diskurs über MigrantInnen und Flüchtlinge fördert.

Besonders in Hinblick auf die Arbeitsmarktintegration gehört für die Caritas in Österreich zielgruppengerechte Information, rasche Evaluierung und Anerkennung bestehender „mitgebrachter“ Qualifikationen, die Förderung berufsspezifischer Sprachkurse sowie die Möglichkeit einer Lehre für Erwachsene dazu. Es ist ebenfalls wichtig, dass Zuwandernde rasch Zugang zu alters- und kompetenzgerechten Sprach­, Aus­ und Weiterbildungsangeboten bekommen, die sie zur gleichberechtigten Teilhabe ermächtigen. Hier bedarf es insbesondere eines bedarfsgerechten und zielgruppenorientierten Deutschkursangebots. Bedingt durch COVID-19 gibt es aktuell einen noch dringenderen Handlungsbedarf, damit MigrantInnen und Flüchtlinge in besonders betroffenen Sektoren nicht dauerhaft in die Arbeitslosigkeit abrutschen oder zu ‚Working Poor‘ werden.

Europa hat sich bei der Bekämpfung der Pandemie offen auf migrantische Arbeitskräfte verlassen und sie zusammen mit vielen anderen wichtigen Arbeitskräften als SystemerhalterInnen identifiziert. Es ist an der Zeit, dass Europa dafür sorgt, dass ihre Fähigkeiten und Talente öffentlich und offen begrüßt und geschätzt werden und dass ihre Menschenrechte zu jeder Zeit respektiert werden, nicht nur dann, wenn ein Bedarf an ihrem Arbeitseinsatz besteht.

 

 Dieses Statement wurde mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union produziert. Der Inhalt liegt in alleiniger Verantwortung der Caritas Österreich und spiegelt nicht notwendigerweise die Ansichten der Europäischen Union wider.

Das Projekt “MIND – Migration. Interconnectedness. Development” ist ein entwicklungspolitisches Bildungsprojekt, das von der Europäischen Union und der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit gefördert wird. Das Projekt möchte auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Migration und nachhaltiger Entwicklung aufmerksam machen und so zu einer positiven Stimmung beitragen. Mehr Informationen finden Sie hier: hier. 

Dieses Projekt wird von der Europäischen Union gefördert.

Dieses Projekt wird von der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit gefördert.