Von Links nach rechtes: Norbert Partl, Elisabeth Ramesch, Michael Landau und Martin Greifeneder (via Zoom)bei der Pressekonferenz

Caritas präsentiert Pflegegeld-Gutachten

Bundesregierung darf jetzt keine Zeit verlieren – knapp 500.000 Betroffene auf Reform angewiesen

 

Kein gutes Zeugnis für Pflegegeld-System. Landau: „Mit Reformen beim Pflegegeld könnte die Bundesregierung die Situation von hunderttausenden Betroffenen nachhaltig verbessern.“

Wien (OTS) - In einer Pressekonferenz im Caritas Pflegewohnhaus Schönbrunn weist Michael Landau, Präsident der Caritas Österreich, auf die dringendsten Herausforderungen in der Pflege hin: „Bis 2030 braucht es zusätzlich mindestens 75.000 Mitarbeiter*innen, die Pandemie hat die ohnehin herausfordernde Situation der pflegenden Angehörigen zusätzlich verschärft und das Pflegegeldsystem entspricht aus mehreren Gründen nicht dem, was es tatsächlich braucht.“ Es sei viel Aufbauarbeit geleistet worden und es gelte jetzt, rasch in ins Tun zu kommen und keine Zeit mehr zu verlieren. „Österreich braucht eine Pflegereform, und zwar jetzt! Die Personaloffensive und der Ausbau von Unterstützungsangeboten für pflegende Angehörige sind nur zwei von vielen, sehr dringend notwendigen Maßnahmen.“

Caritas-Gutachten zeigt: Zahlreiche Schwachstellen im Pflegegeld-System

Ein von der Caritas in Auftrag gegebenes Gutachten stellt dem geltenden Pflegegeld-Regime in mehreren Punkten kein gutes Zeugnis aus. So wird etwa bei der Pflegegeldeinstufung zu wenig Rücksicht auf kognitive Defizite – wie beispielsweise Demenz – genommen. Der Erschwerniszuschlag, der für Menschen mit einer schweren kognitiven oder psychischen Erkrankung angerechnet wird, bildet meist nicht den tatsächlichen Mehraufwand ab, der beispielsweise durch eine demenzielle Erkrankung besteht. Landau: „Es braucht eine Erhöhung des Erschwerniszuschlags von derzeit 25 auf 45 Stunden für Menschen mit einer kognitiven oder psychischen Beeinträchtigung.“ Außerdem wird bei der Einstufung das Hauptaugenmerk auf jene Fähigkeiten und Ressourcen gelegt, die nicht mehr vorhanden sind. Hingegen spielen Fähigkeiten, die durch eine aktivierende Pflege erhalten, verbessert oder wiederhergestellt werden, keine Rolle. Landau: „Das steht klar im Widerspruch zum Zweck des Pflegegeldes, soll es doch pflegebedürftige Personen dabei unterstützen, soweit wie möglich und so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auch aktivierende, wiederherstellende Pflege-Tätigkeiten sollten beim Pflegegeld berücksichtigt und entsprechend gefördert werden.“

Ende 2020 hat die Caritas zahlreiche Expert*innen aus der Praxis zu einem gemeinsamen Webinar mit Fachexpert*innen eingeladen, um die notwendigen Weiterentwicklungen des Pflegegeldsystems zu diskutieren. Auf Basis dieser Ergebnisse erstellte der Pflegerecht- und Pflegegeld-Experte Dr. Martin Greifeneder ein sehr fundiertes Gutachten, das die Schwachstellen und auch Lösungswege veranschaulicht. Beim Pressegespräch am Donnerstag fasste Greifeneder die wichtigsten Erkenntnisse zusammen: „Die größte Schwachstelle im bestehenden System ist die mangelhafte Begutachtungspraxis. Der Großteil der von Betroffenen und Beratenden wahrgenommenen Probleme, beispielsweise bei der Einstufung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen, wären durch eine konsequente Anwendung der bereits bestehenden rechtlichen Vorgaben vermeidbar. Wenn seit über zehn Jahren mehr als 50% der Pflegegeldklagen bei Gericht mit einer höheren Einstufung enden, so spricht dies eine deutliche Sprache. Die meisten Betroffenen aber beschreiten diesen oft als sehr belastend empfundenen Klagsweg erst gar nicht. Die Verbesserung der Gutachterausbildung sowie der Begutachtungspraxis sind dringend geboten. Den pflegenden Personen ist wesentlich umfassender Gehör zu schenken.“ Nicht zuletzt verweist Greifeneder auf die zeitliche Dringlichkeit aus Sicht der Betroffenen: „Pflegebedürftige müssen jetzt und heute gepflegt werden, sie müssen jetzt ihre Pflege organisieren und finanzieren können. Die angesprochenen Maßnahmen fallen allesamt in den Zuständigkeitsbereit des Sozialministers und könnten kurzfristig, ohne lange Vorlaufzeit umgesetzt werden.“

Auch ein Mitarbeiter aus der Praxis, Norbert Partl, Leiter der Angehörigenberatung der Caritas der Erzdiözese Wien berichtet bei der Pressekonferenz von schwierigen Situationen bei der Begutachtung zur Pflegegeldeinstufung: „Für Angehörige ist es sehr problematisch, dass Angehörige und Pflegebedürftige gleichzeitig befragt werden. Auf der einen Seite will sich der oder die Pflegebedürftige bei diesen Besuchen von seiner bzw. ihrer besten Seite zeigen, auf der anderen Seite wollen Angehörige die Pflegebedürftigen nicht bloßstellen. Außerdem sind sie meist nicht ausreichend vorinformiert.“ Elisabeth Ramesch, selbst Gutachterin in Ausbildung berichtet von Schwachstellen in der Pflegegeldeinstufung: „Gerade bei Menschen mit Demenz ist oft nicht auf den ersten Blick ersichtlich, wo die Schwierigkeiten liegen. Dass die Person zum Beispiel körperlich und kognitiv in der Lage ist, zu essen, kann man leicht erkennen. Doch dass eine Person mit Demenz häufig vergisst zu essen und zu trinken, und ihre Bedürfnisse nicht mehr äußern kann, ist nicht gleich ersichtlich. Dazu braucht es die Erfahrung mit den jeweiligen Krankheitsbildern, die praktisch jedoch leider oft nicht gegeben ist.“

Landau wiederholt Appell zur Umsetzung der Pflegereform und drängt zusätzlich auf rasche Reformen beim Pflegegeld

Viele Bereiche der Pflege sind föderal strukturiert und es brauche daher das Einbeziehen zahlreicher Stakeholder und ein langfristiges Denken. Beim Pflegegeld aber liegt die Entscheidungskompetenz auf Bundesebene, so Landau: „Die regelmäßige Inflationsanpassung seit 1.1.2020 war ein wichtiger Schritt. Doch auch der Wertverlust, der davor eingetreten ist, sollte zumindest ein Stück weit ausgeglichen werden. Zudem kann der Bund – innerhalb kürzester Zeit – wichtige und bereits lang anstehenden Reformen anstoßen, und damit das Leben hunderttausender Menschen in unserem Land unmittelbar und nachhaltig verbessern.“

Konkret zählt der Caritas-Präsident dringend notwendige Reformen auf:

  1. Weg von einer pauschalen, defizitorientierten Bedarfseinschätzung, hin zu einer individuellen, multiprofessionellen.
  2. Der Erschwerniszuschlag muss von derzeit 25 Stunden auf 45 pro Monat erhöht werden, um insbesondere demenzielle Erkrankungen besser zu berücksichtigen.
  3. Es braucht eine Verbesserung der Gutachtensqualität inklusive einer guten Einbeziehung der Pflegenden und Angehörigen und einer umfassenden Ausbildung für Gutachter*innen.
  4. Pflegetätigkeiten, die das Ziel verfolgen, die Fähigkeiten von Menschen zu erhalten oder wiederherzustellen, müssen beim Pflegegeld Berücksichtigung finden.

Abschließend verweist Landau darauf, dass die Probleme hinreichend bekannt seien: „Sowohl im Regierungsprogramm als auch im Taskforce-Pflege-Bericht wurde die Umsetzung vieler der dringend notwendigen Maßnahmen angekündigt. Doch seit Erscheinen des Berichts ist bereits ein halbes Jahr vergangen und keine der genannten Maßnahmen wurde umgesetzt oder konkret angegangen. Die Pandemie hat klar und deutlich gezeigt, dass die Pflege systemrelevant ist. Bei der Umsetzung der Pflegereform darf nicht länger am Bremspedal gestanden werden.“

Gutachten zum Download (1 MB)