„Wir müssen die Syrienkrise mit neuen Augen sehen.“

Barbara Coudenhove-Kalergi wurde in Prag geboren und floh 1945 mit ihrer Familie nach Österreich. Sie begann in Wien Dolmetsch zu studieren und arbeitete anschließend als Journalistin für diverse Zeitungen sowie in der Osteuropa Redaktion des ORF. Nebenbei engagierte sich Coudenhove-Kalergi viele Jahre ehrenamtlich für die Caritas.   

Caritas Österreich: Ihre Autobiografie hat den Titel „Zuhause ist überall“. Was bedeutet das für Sie?

Barbara Coudenhove-Kalergi: Ich hatte Schwierigkeiten, als ich als Flüchtlingskind nach Österreich kam, mich hier heimisch zu fühlen. Ich kann gut nachvollziehen, wie es den Flüchtlingen heute geht. Ich glaube, das Wesentliche bei dem Thema Integration ist, dass die Leute ihre Wurzeln nicht völlig abschneiden müssen, damit sie hier akzeptiert werden. Das zu verlangen ist unmenschlich und kontraproduktiv. Es gibt eine Band die heißt „EsRAP“. Das ist ein Geschwisterpaar, zweite Generation Türken, die haben ein Album mit dem Namen „Tschuschistan“ rausgebracht und sie sagen: „Wir sind nicht mehr Türken, aber auch nicht wirkliche Österreicher - wir sind stolze Tschuschen“. Damit haben sie etwas Richtiges erfasst. Es muss einen Status geben, der anerkannt ist und der zwischen einem Türken und einem 100% Österreicher ist. Ich kann mich erinnern, ich kam als Kind aus Prag und wir sind im Lungau gelandet. Dort haben sie mir eingeredet, dass ich jetzt die Salzburger Landeshymne singen und Dirndl tragen muss, mir kam das furchtbar blöd vor, ich war verwirrt und unglücklich. Ich glaube, es würde uns allen so gehen - du musst das sein dürfen, was du bist, aber du musst natürlich schon auch aufnehmen, was du neu findest. Die Amerikaner haben dafür den Begriff „Third culture kids“ erfunden. „Third culture kids“ haben beide Kulturen kennengelernt und entwickeln daraus eine Dritte, eine eigene.  Es ist ein schwieriger Prozess und Österreich hat ihn in seiner Geschichte schon oft erlebt. Um 1900 kamen viele Tschechen hierher. Wien war die größte tschechische Stadt nach Prag und es hat sich genau dasselbe abgespielt wie heute - die Leute wurden diskriminiert und wenn sie auf der Straße tschechisch gesprochen haben, wurden sie angepöbelt. Inzwischen sieht man lauter tschechische Namen, wenn man das Telefonbuch aufschlägt.

Caritas Österreich: Erwarten wir zu schnell zu viel in Bezug auf Integration?

Barbara Coudenhove-Kalergi: Es gibt kein Allerheilmittel, aber es hat auf gar keinen Fall Sinn die Leute zu diskriminieren und sich zu wünschen, dass es sie nicht gibt. Es gibt sie, in Österreich hat jeder vierte Migrationshintergrund. Es gibt keine Alternative außer irgendwie vernünftig zusammenzuleben. Natürlich gibt es auch Herausforderungen, aber mit gutem Willen ist das machbar. Auch das Schlagwort vom „politischen Islam“ ist ein Unwort. Jede Religion ist politisch. Ich habe mir von Experten erklären lassen, dass es nicht „Den Islam“ gibt und wenn wir uns nur auf die reaktionärste Auslegung verbeißen, dann liegen wir falsch. Übrigens hat Österreich eines der fortschrittlichsten Islam-Gesetze Europas, es ist noch aus der Kaiserzeit. Der Islam ist eine anerkannte Religionsgemeinschaft, muslimische religiöse Bürger haben das Recht auf Religionsausübung, genauso wie Christen. Dieses Gesetz muss man nur ausleben.

Caritas Österreich: Wie werden Integrationsangebote Ihrer Erfahrung nach angenommen?

Barbara Coudenhove-Kalergi: Ich habe Erwachsene unterrichtet, die waren immer motiviert und wollten lernen. Was die Deutschklassen in den Schulen anbelangt, sind sich alle Experten einig, dass das schlecht ist. Ich glaube auch, dass freiwillige Kurse besser funktionieren und es hat etwas damit zu tun, ob die Leute bildungsnah oder bildungsfern sind. Es gibt eben verschiedene Arten von Leuten die herkommen. Die Syrer die gekommen sind waren vor allem gebildete Leute, die vor einem radikalen Islam geflohen sind, weil sie eben nicht alle diese Restriktionen haben wollten, die man hier mit dem Islam verknüpft. Sie wollten eben nicht von Taliban sekkiert werden. Die haben z.B. weniger Schwierigkeiten hier Fuß zu fassen. Es gibt eine ganze Community von syrischen Ärzten, die sich um ihre KollegInnen kümmern und ihnen helfen, sich hier nostrifizieren zu lassen.

Caritas Österreich: Im Zuge Ihres Engagements für die Caritas haben Sie oft mit jungen muslimischen Männern mit Flucht- und Migrationshintergrund gearbeitet, welche Erfahrungen haben Sie mit dieser Zielgruppe gemacht? 

Barbara Coudenhove-Kalergi: Ich hatte in zehn Jahren kein einziges negatives Erlebnis. Ich war sehr gespannt, wie das werden würde und dann war es wunderbar. Sie waren gescheit, höflich, interessiert und hilfsbereit. Ich habe sie dann darauf angesprochen und gefragt, was denn mit ihnen los sei, dass ich dachte, dass es problematisch für sie sei, sich von einer Frau etwas erklären zu lassen und dann haben sie geantwortet: „Bei uns hat man Respekt vor dem Alter.“ Also war das wenigstens einmal nützlich (lacht).

Caritas Österreich: Wo sehen sie den Beitrag von Migration in unserer Gesellschaft?

Barbara Coudenhove-Kalergi: Besonders deutlich ist der Beitrag im Pflegewesen. Ohne MigrantInnen würden unsere Spitäler sofort zusammenbrechen. Alle schlecht bezahlten Jobs werden hauptsächlich von MigrantInnen gemacht – Altenpflege, Reinigung, Bauarbeit. Stark sichtbar ist er auch, wenn man sich  die Literatur anschaut - die interessantesten AutorInnen haben oft einen Flucht- oder Migrationshintergrund. Da ist eine ungeheure Bereicherung nach Europa gekommen. Da ist ein Potenzial von Menschen, die wir wirklich dringend brauchen, weil diejenigen die wegziehen natürlich eine Elite sind. Die haben Mut und Initiative und alle möglichen Eigenschaften, die nützlich sind. Die Wirtschaft sagt auch, dass sie diese Menschen dringend braucht.

Caritas Österreich: Sie sind Mitbegründerin der Initiative „Land der Menschen“, ein Projekt, das es sich zum Ziel gemacht hat, den Dialog zwischen MigrantInnen/Flüchtlingen und Einheimischen zu fördern und so Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen. Was war ihre Conclusio aus dem Projekt?

Barbara Coudenhove-Kalergi: Wir haben das Problem nicht weggebracht, aber zumindest ein paar Menschen aufgeklärt und das ist ja schon was. Einmal waren wir am Praterstern, da wurde heftig diskutiert. Eine Gruppe, die in den Stadtgärten gearbeitet hat, hat gesagt: „In unsere Partie kommt kein Ausländer rein“. Sie hatten aber einen in ihrer Runde, der Nordafrikaner war. Dann haben wir gefragt: „ Was ist mit eurem Kollegen?“ und sie haben geantwortet: „Das ist doch kein Ausländer, das ist der Mustafa.“ (lacht)