„Ohne MigrantInnen würden unsere Spitäler sofort zusammenbrechen.“

Seit 2011 befindet sich Syrien im Kriegszustand. 13 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe, mehr als ein Drittel davon sind Kinder.  Viele Syrer und Syrerinnen haben im Laufe der Jahre Zuflucht im Libanon und in Jordanien gesucht. Die beiden Länder haben weltweit das höchste Flüchtlingsaufkommen pro Kopf.

Die Caritas hilft vor Ort unter anderem mit dem Bildungsprogramm RHEP (Regional Holistic Education Programme). Die vom Krieg betroffenen Kinder in der Region erhalten durch das Programm Zugang zu Bildung sowie zu psychosozialer und psychotherapeutischer Betreuung.

Wir haben mit Omar Abawi, Programmleiter der Caritas Jordanien, darüber geredet, wie sich Migration auf die Entwicklung seines Landes auswirkt und welche Maßnahmen gesetzt werden müssen, um gelungene Integration zu gewährleisten. 

Caritas Österreich: Welche Projekte hat die Caritas Jordanien für Menschen mit Fluchthintergrund?

 

Abawi: Die Caritas Jordanien wurde 1967 aufgrund der Auswirkungen des Sechstagekrieges [Anm.: zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien] gegründet. Hilfe für geflüchtete Menschen gehört darum seit jeher zu einer unserer grundlegenden Tätigkeiten. Generell sind wir in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Unterbringung, Beratung, Livelihood, das heißt Deckung der Grundbedürfnisse und Sicherung der Existenzgrundlage, und Ernährungssicherheit tätig. 

Derzeit sind wir sicherlich einer der wichtigsten Hilfe-Leister im Zuge der Syrienkrise. In Zusammenarbeit mit dem UNHCR [Anm. Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge] und dank der Unterstützung des gesamten Caritas Netzwerkes stellen wir die Grundversorgung syrischer Flüchtlinge sicher. Nach über acht Jahren herrscht noch immer eine große Not. Ein Teil der Flüchtlinge, die wir betreuen, kommt allerdings aus dem Irak. Viele von Ihnen sind 2014 vor den Daesh [Anm. Islamischer Staat] geflüchtet.

 

Caritas Österreich: Welchen Einfluss hatten die Flucht- und Migrationsbewegungen der letzten 70 Jahre auf Jordanien?

 

Abawi: Unsere Gesellschaft ist vielfältiger geworden. Die Wünsche, Träume und Erlebnisse der Menschen, die über die Jahre zu uns gekommen sind, sind Teil unserer Geschichte und unserer Erinnerung geworden. Nur eine geringe Anzahl der Menschen mit Fluchthintergrund lebt in den Lagern, die wir haben. Die meisten von ihnen leben außerhalb, inmitten der Gesellschaft. Als Caritas Jordanien waren wir übrigens von Beginn an gegen die Flüchtlingscamps. Diese Camps sind wie Gefängnisse, sie ermöglichen kein Leben in Würde.

Jordanien hat auch die Genfer Konvention nicht unterschrieben, für uns sind die bei uns lebenden Syrer daher keine Flüchtlinge, sondern Gäste und als solche werden sie auch behandelt. Gastfreundschaft hat im Mittleren Osten einen großen Stellenwert und diese Freundlichkeit wird erwidert. Jordanien, Syrien, Libanon und Palästina waren vor nicht allzu langer Zeit ein Land, eine Gesellschaft und das wird uns wieder in Erinnerung gerufen.  

 

Caritas Österreich: Dank dem Jordan Compact dürfen Flüchtlinge in Jordanien in bestimmten Sektoren arbeiten, wie sieht das genau aus?

 

Abawi: Menschen mit Fluchthintergrund dürfen bei uns im Bauwesen, der Abfallwirtschaft, der Landwirtschaft und der Gastronomie arbeiten.

Leider gibt es noch immer eine relative hohe Anzahl an Menschen, die keine Arbeitserlaubnis haben, viele von ihnen haben Angst, dass sich dadurch ihre Grundversorgung durch den UNHCR  reduziert, aber wir kennen jetzt das Problem und können uns daher mit der Lösung beschäftigen.

 

Caritas Österreich: Wie sieht die Situation für Frauen mit Fluchthintergrund aus? Welchen Herausforderungen müssen sie sich stellen?

 

Abawi: Das größte Problem ist sicher, dass die meisten Frauen nicht am Arbeitsmarkt integriert sind. Als Caritas Jordanien versuchen wir hier bestmöglich entgegenzuwirken. Mit dem Programm „Cash for Work“ hatten wir bereits erste Erfolge: Das erste Mal in der Geschichte Jordaniens waren Frauen in der Abfallwirtschaft tätig.

 

Caritas Österreich: Welche Unterstützung braucht es von der internationalen Community? Abgesehen von Geld.

 

Abawi: Technische Unterstützung ist oft wichtig und die Einbindung beim Projekt-Design. Wir müssen damit beginnen nicht nur Nothilfe zu leisten, sondern auch den Entwicklungsaspekt mitzudenken und zu fördern. Es sollte eigentlich eine Voraussetzung sein, dass die jordanische Gesellschaft auch von den geplanten Hilfsmaßnahmen profitiert. NGOs können einen wichtigen Beitrag in der Umsetzung solcher Projekte leisten, weil sie Werte wie Solidarität, Gleichheit und Transparenz vertreten. Man kann sich auf sie verlassen. Es macht keinen Sinn Zeit und Geld in korrupte Regierungen zu investieren.

 

Caritas Österreich: Ist der Jordanische Antwortplan auf die Syrienkrise, die staatliche Antwort auf den Krieg in Syrien, positiv für Jordanien?

 

Abawi: Ich denke, es wurde getan was getan werden musste. Das Problem ist nicht, dass der Plan nicht gut ist. Das Problem ist, dass nach acht Jahren Syrien-Krise kein Platz mehr für dieses Thema in den westlichen Medien ist und Medien zählen zu den wichtigsten Akteuren bei humanitären Krisen.

Wir müssen die Syrienkrise mit neuen Augen sehen. Ich denke, die Frage ist nicht, ob es weitere Spenden oder Fördermittel braucht. Die Frage ist nicht einmal, ob wir adäquat auf die Syrienkrise reagieren. Die Frage ist eher, wie wir es schaffen können im Mittleren Osten zu einer friedlichen Lösung zu kommen. Wenn wir es nicht schaffen, diese Frage zu klären, werden wir wieder eine Schlepperroute Richtung Europa haben und dabei wird es sich nicht nur um Menschen auf der Flucht, sondern auch um Armutsmigranten handeln. Weil es dann keinen Grund mehr geben wird, zuhause zu bleiben.  

 

Caritas Österreich: Welche Erwartungen hast du an den Global Compact on Migration?

 

Abawi: Der Global Compact on Migration ist eine tolle Leistung der internationalen Gemeinschaft. Ihn zu unterschreiben ist allerdings nur der erste Schritt, jetzt geht es darum ihn tatsächlich umzusetzen. Dafür wird es Ressourcen brauchen. Eines der Ziele für Nachhaltige Entwicklung (Anm.: Agenda 2030) lautet „Gleiche Bildung für alle“. Derzeit schaffen wir es aber noch nicht einmal „Bildung für alle“ zu gewährleisten. Wir haben also noch sehr viel zu tun.

(Das Interview wurde im Dezember 2018 in Wien geführt)